Das Zusammenspiel der Phänomene von Individualisierung, Globalisierung, Segregation, Suburbanisierung und Deindustrialisierung formt gegenwärtig einen neuen Typ Landschaft.
Ehemals allumfassend bestehende, hierarchische Strukturen werden durch dynamische und flexible Strukturen abgelöst - nicht nur in Gesellschaft und Wirtschaft, sondern auch in der Entwicklung von Stadt und Landschaft.
Die zunehmende Mobilität und die gestiegenen Lebensansprüchen führen zum Beispiel zu einem massiven Ausbau der Stadtränder mit Eigenheimsiedlungen. Der erste "Speckgürtel" entstand am Rande der Stadt, dann der zweite und später der dritte...
In den Peripherien der Städte wuchsen aber nicht nur neue Wohnsiedlungen und Gewerbegebiete, sondern auch Infrastrukturen, wie Strom- und Wasserleitungen, Straßen, Autobahnen, Raststätten, Parkplätzen und Flughäfen. Es kam zu einer starken Vermischung von Stadt und Landschaft. Die Unterschiede zwischen den einstigen Gegensätzen verschwanden immer mehr.
Der Bau von Infrastrukturen ist notwendig, um in einer globalisierten Welt mitspielen zu können. Man muss mobil bleiben, um die immer weiteren Wege, die einem der Arbeitsmarkt und das Privatleben abverlangen, zurücklegen zu können.
Globalisierung schuf das Pendlertum und mit ihm den modernen "Jobnomade", sowie den Langzeitarbeitslosen. Letzterer schaffte es nicht, aus finanziellen, physischen oder psychischen Gründen, mithalten zu können.
Hinken wir also der von uns selbst gemachten Entwicklung hinterher?
"Die Stadt ist dort, wo urban gelebt wird. Das ist fast überall. Also macht die Trennung von Stadt und Land keinen Sinn mehr." (Henri Bava, In: Topos 40/2002, S. 76)
Die ehemalige Unterscheidung in die Stadt oder die Landschaft greift nicht mehr, sondern Stadt und Landschaft werden zusehends Eins.
Deshalb versuchen Landschaftsforscher wie John Brinckerhoff Jackson oder Stadtplaner, wie Rolf Peter Sieferle und Thomas Sieverts einen passenden Namen für diese neue Landschaft zu finden: Landschaft Drei, Totale Landschaft, Zwischenstadt, Urban Sprawl, Landschaftsstadt, Stadt-Landschaft, verstädterte Landschaft, verlandschaftete Stadt oder hybride Landschaft sind nur einige Beispiele (Hille von Seggern, Stadt, Land, Fluss, 2004, S. 1).
Jackson definierte bereits 1984 seine Idee der "Landschaft Drei" nicht als eine Szenerie oder politische Einheit, sondern als eine durch Menschen festgelegte, künstliche, synthetische und flexibel gestaltete Landschaft. Landschaft nicht nur als natürlicher Raum, als Bestandteil der natürlichen Umwelt, nicht als eine statische sondern zeitlich und räumlich offene Idee, die es immer wieder neu zu verhandeln und festzulegen gilt. Die "Landschaft Drei" ist also kein Bild oder Ergebnis, sondern ein komplexes und veränderliches System (nach Martin Prominski, In: Topos 44/2003, S. 92...98 und auf der Fachtagung: Perspektive Landschaft, 2004).
Rolf Peter Sieferle schrieb zu seinem Begriff der "Totalen Landschaft", dass "der seit ungefähr zweihundert Jahren andauernde Prozess der Industrialisierung und Modernisierung [...] einen neuartigen Landschaftstypus hervor[brachte], der sich im 20. Jahrhundert rapide über die gesamte Erde ausbreitete und der als ‘totale Landschaft‘ bezeichnet werden kann." (Rolf Peter Sieferle, In: Topos 47/2004, S. 6) Der Begriff der "Totalen Landschaft" meint somit, dass "ein älteres, räumliches und verbindliches [Bild der Landschaft] von einem neuen, individuellen und flüchtigen Differenzierungsmuster, [von] einer Einheit von Abwechslung und Monotonie" (Rolf Peter Sieferle, Ebd.), abgelöst wird.
Thomas Sieverts sieht Sieferles "Totale Landschaft" als die Durchdringung der Natur von Technik oder Menschenwerk, so "dass man häufig zwischen dem ‘Reich der Natur‘ und dem ‘Reich der Technik‘ nicht mehr klar unterscheiden kann." (Thomas Sieverts, Topos 40/2002, S. 39...44)
Sieverts beschrieb den Begriff "Zwischenstadt" erstmalig 1997 in seinem gleichnamigen Buch als verstädtere Landschaft oder verlandschaftete Stadt, die sich durch die "Auflösung der kompakten historischen europäischen Stadt" zu "einer ganz anderen, weltweit sich ausbreitenden neuen Stadtform" (Thomas Sieverts, Zwischenstadt, 1998, S. 1) entwickelte und sich immer noch entwickelt: "Es ist die Stadt zwischen den alten historischen Stadtkernen und der offenen Landschaft, zwischen dem Ort als Lebensraum und den Nicht-Orten der Raumüberwindung, zwischen den kleinen örtlichen Wirtschaftskreisläufen und der Abhängigkeit vom Weltmarkt." (Thomas Sieverts, Ebd.)
Auffällig ist, dass Sieverts seine "Zwischenstadt" als eine Erscheinungsform, als ein Produkt des Landschaftswandels beschreibt, wohingegen Sieferle und Jackson diese neue, veränderte "Totale Landschaft" oder "Landschaft Drei" nicht als reines Bild oder Produkt des Landschaftswandels sehen, sondern als einen Prozess, der sich in der Landschaft abspielt. Sie beschreiben die "Totale Landschaft" oder "Landschaft Drei" als den sichtbaren Prozess des Landschaftswandels.
Landschaft ist kein Ergebnis, sondern ein komplexes, veränderliches System. Um diese Komplexität und Veränderlichkeit der Landschaft wahrnehmen zu können, bedarf es der Fähigkeit die Perspektiven wechseln zu können - vergleichbar mit der Betrachtung eines Kippbildes.
Ein gezielter Perspektivwechsel könnte also dazu verhelfen, die Gleichzeitigkeit von Widersprüchen in der heutigen Landschaft zu akzeptieren und als eine Chance zu begreifen.
Zwischenräume oder Nicht-Orte sind Räume der individuellen Durchreise. Sie fallen selten auf und bilden eine neue unfokussierte Landschaft aus brachliegenden Räumen in städtischen Randzonen, in Vorstädten und in deindustrialisierten Gebieten (sub-)urbaner Landschaften.
Es sind undefinierbare, amorphe Räume zwischen Lagerhallen oder Einkaufszentren, in Industrieansiedlungen oder Gewerbegebieten. Sie sind banal und eigenschaftslos und besitzen eine zweifelhafte Ästhetik. Meist werden sie übersehen, da sie sich einer genauen Kategorisierung entziehen und ihr Gebrauchswert überholt ist oder nie vorhanden war.
Diese unwirtlichen Nicht-Orte am Stadtrand überformen die altbekannte Kulturlandschaft und erzeugen eine neue beliebige und wenig anspruchsvolle "Zwischenlandschaft".
Die Peripherie ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein Zustand. Dies gilt es in das Bewusstsein zu rufen und in Architekturdebatten zu berücksichtigen.
Die Fragen lauten: In welchem Umfang können diese randstädtischen Gebiete zu einem Ernst zu nehmenden Experimentierfeld der Landschaftsarchitektur werden? Wie lässt sich dieses ständig wachsende, undifferenzierbare Territorium gestalten?
Ein erster Schritt bei deren Gestaltung könnte sein, der nahezu auswechselbaren Architektur mit ausdruckstarker und prägnanter Landschaftsarchitektur zu begegnen.
Landschaftsarchitektur muss attraktive und vielseitig nutzbare Räume auch oder besonders an scheinbar unbedeutenden Orten schaffen.
Bezüglich der parallel ablaufenden Phänomene der Stadtschrumpfung und des Stadtwachstums, muss die Planung ebenso gegensteuern, indem sie eine doppelte Innenentwicklung initiiert und die Stadt und ihre Freiräume aufwertet.
Im Rahmen von Dialogen müssen die alten Leitbilder der Landschaftsarchitektur hinterfragt und neue Leitbilder aufgestellt werden, denn erstere stammen teilweise noch aus den Vorzeiten der Industriegesellschaft und reflektieren ein heute überkommenes Natur- und Landschaftsverständnis.
Die Sinne bezüglich der Wandelfähigkeit der Landschaft müssen geschärft werden. Ein bewussterer Blick auf die Landschaft und eine bewusstere Wahrnehmung des Landschaftswandels könnte helfen, bei Planungen weniger den Mythos "Landschaft" zu verfolgen, sondern vielmehr Landschaften an sich zu verstehen.
Wie sollen zukünftige Landschaften aussehen? Welche Bilder sollen wir uns von ihr machen?
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siehe auch:
www.deutschlandschaft.de (Deutscher Beitrag zur 9. Architekturbienale in Venedig 2004)
www.zeit.de (Artikel zum Flächenverbrauch in der ZEIT)
www.ioer.de (Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung)
www.irs-net.de (Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung)
www.dasl.de (Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung)
